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„Warum Singen gesund ist“

von Angelika Friedl (Zeitung: Die Welt)

Von wegen stille Nacht: Die Adventszeit ist eine Zeit der Musik. Studien an Laienchören zeigen, was das hohe C wert ist. Sänger eines Kirchenchores in Frankfurt hatten Speichelproben abgegeben. Klar ist: Singen stärkt die Abwehrkräfte. Und: Gesang kann manchmal sogar verfeindete Nationen vereinen.

Die Stimme gilt als ein Spiegelbild unserer Seele. Mit ihr reden, schreien, flüstern und krächzen wir. Unendlich viele Töne lassen sich ihr entlocken. Und manchmal, wenn wir singen, kann die Stimme andere Wesen verzaubern. So wie es Orpheus konnte. In kaum einer anderen Erzählung wird die Macht des Singens so eindringlich beschworen wie im Mythos des Sängers Orpheus. Mit seiner Stimme und seiner Lyra konnte er Steine erweichen und Tiere zähmen, ja, er überwand sogar die Grenzen des Todes, als es ihm gelingt, in das Totenreich des Hades einzudringen.

Aber Singen kann noch mehr als verzaubern. „Wer singt, lebt gesünder“, ist Wolfram Seidner überzeugt, emeritierter Professor an der Klinik für Phoniatrie und Audiologie der Charité Berlin. Jahrzehntelang hat sich der Facharzt für Hals-Nasen-Ohren-Krankheiten, ein ausgebildeter Sänger, um Hör-, Sprach-, Stimm- und Schluckstörungen gekümmert. Er hat Solisten der Staatsoper und der Komischen Oper beraten, und berühmte Sänger wie Peter Schreyer und Theo Adam.

Ob Profi oder Laie, Sänger müssen, sagt Wolfram Seidner, auf die Signale ihres Körpers halten. Zu viel Alkohol, fettes Essen und zu wenig Schlaf schaden der Stimme. Wer aber viel singt, tut aktiv etwas für seine Gesundheit. Er schützt sich vor Erkältungen und stärkt sein Immunsystem, entdeckten kürzlich Wissenschaftler vom Institut für Musikpädagogik der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

Mehr Immunglobuline nach dem Singen

Die Forscher untersuchten die Speichelproben der Mitglieder eines Kirchenchores, die das Requiem von Mozart sangen. Nach der Chorprobe war die Anzahl der Immunglobuline A, die in den Schleimhäuten sitzen und Krankheitserreger bekämpfen, stark gestiegen. Wenn die Chormitglieder dagegen Mozarts Musik nur vom Band hörten, blieb die Anzahl der Antikörper unverändert.

Um singen zu können, brauchen wir Lunge, Kehlkopf, Stimmlippen und die Resonanzräume unseres Körpers. Wichtig ist die richtige Atemtechnik. Wenn man nur in den Brustkorb einatmet, bläht man nämlich den Brustkorb auf und schnürt den unteren Teil der Lunge ein. Trainierte Sänger atmen dagegen in den Bauch hinein, dessen Muskulatur das Zwerchfell nach unten zieht.

Der ganze Körper als Klangraum

Das Zwerchfell wiederum drückt die Lungenflügel nach unten, so dass die Luft in den Lungen viel Platz hat. Auf diese Weise entspannen Sänger ihren Brustkorb und kräftigen ihre Rückenmuskeln. Wer die Methode beherrscht, verwandelt seinen ganzen Körper in einen Klangraum, mit dem er wie auf einem Instrument spielen kann.

Diese Art des Singens fordert den ganzen Körper. Schon zehn bis 15 Minuten Singen und Trällern reichen aus, um das Herz-Kreislauf-System auf Trab zu bringen. Die Atmung intensiviert sich, der Körper wird besser mit Sauerstoff versorgt. Profisänger besitzen sogar eine deutlich erhöhte „Herzratenvariabilität“, die die Schwingungsbreite der Herzfrequenz anzeigt, und sind so fit wie Dauerläufer.

Gesang kann manchmal sogar verfeindete Nationen vereinen. Der Musiktherapeut Wolfgang Bossinger hat das in seiner Jugend erlebt. Damals trafen sich am Strand des Roten Meeres jeden Abend Menschen verschiedenster Nationen, auch Israelis und Araber, um zusammen zu singen. Die Erfahrung war entscheidend für Bossingers Berufswahl. Die heilende Wirkung von Musik und Gesang hat er später viele Male beobachten können, zuerst in der Arbeit mit krebskranken Kindern und später als Musiktherapeut in Göppingen, am Klinikum Christophsbad für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik.

Mit Gesang befreit

In manchen Fällen wirkt Singen wie ein „Anti-Depressivum“, meint Musiktherapeut Bossinger. „Ich habe immer wieder erlebt, dass es Menschen mit seelischen Problemen sehr helfen kann, wenn sie in der Gruppe singen“, erzählt Bossinger. Schon im Alten Testament wird berichtet, dass Musik Depressionen heilen kann. David der Hirtenjunge, der spätere König von Israel, befreit König Saul mit seinem Gesang und durch das Spiel seiner Harfe von dessen depressiven Grübeleien.

Die moderne Forschung hat die Gemütsaufhellende Wirkung des Singens in mehreren Untersuchungen nachgewiesen. Schon nach dreißig Minuten Singen produziert unser Gehirn erhöhte Anteile von Beta-Endorphine, Serotonin und Noradrenalin. Stresshormone wie zum Beispiel Cortisol werden praktischerweise gleich mit abgebaut.

„Besingen“ oder „Betönen“ nennt die Berliner Ärztin und Gesangstherapeutin Carien Wijnen ihre Methode, bei der die Klienten oder Teilnehmer von Kursen in entspannter Haltung in der Mitte des Raumes liegen. Die restlichen Teilnehmer stehen im Kreis herum und summen, tönen und singen dann minutenlang auf die Liegenden ein.

Drei Millionen Sänger in Deutschland

„Ich habe damit schon viele positive Erfahrungen gemacht. Kopfschmerzen verschwinden, unterdrückte Erinnerungen kommen hoch und der Energielevel erhöht sich“, berichtet Wijnen.

In den Einzelstunden setzt sie manchmal auch ein Oberton-Instrument ein, eine Art kleines Monochord. Es wird auf den Rücken oder Bauch des Klienten gelegt, das Tönen übernimmt dann das Saiten-Instrument selbst. Vielleicht ist das Tönen eine ferne Erinnerung an die Macht, die Orpheus mit seinen Gesängen ausübte, als er „singend der Berge unbezwingliche Felse und strömende Flüsse bezaubert“.

Über drei Millionen Menschen in Deutschland singen in Chören. Sie sind in der Regel lebenszufriedener und ausgeglichener und besitzen mehr Selbstbewusstsein als Nichtsänger, wie der Münsteraner Musikpsychologe Karl Adamek herausgefunden hat. Beim regelmäßigen Singen verbinden sich die Synapsen im Gehirn neu – und machen den Sänger klüger.

Chorsänger leben länger

Singen scheint sogar einen lebensverlängernden Einfluss zu haben. Schwedische Forscher untersuchten in den neunziger Jahren über 12 000 Menschen aller Altersgruppen und entdeckten, dass Mitglieder von Chören und Gesangsgruppen eine signifikant höhere Lebenserwartung haben als Menschen, die nicht singen.

Schon kleine Kinder profitieren von Gesangsstunden, wie Adamek und sein Kollege Thomas Blank in einer Studie über Kinder im Vorschulalter bewiesen haben. Kinder, die viel singen, bestehen deutlich häufiger den Schultauglichkeitstest im Vergleich zu Kindern, die wenig singen. Auch ihre Sprache sowie das Denken und die Koordination sind besser entwickelt.

Doch trotz der vielen Chöre: Chorleiter und Musikpädagogen beklagen, dass immer weniger selbst gesungen wird – auch nicht in der Advents- und Weihnachtszeit, früher die hohe Zeit der Hausmusikabende. Trumpf ist vielmehr das passive Zuhören mit dem CD-Player oder dem iPods. Dass ungeübte Sänger zusammen singen, kommt nur noch selten vor. Vielleicht in der Kirche an hohen Feiertagen oder in Fußballstadien, wenn die Fans die eigene Mannschaft anfeuern und die gegnerischen Fußballer mürbe machen wollen.

Befreiende Wirkung kommt

Der Grund für die mangelnde Sangeslust liegt nach Überzeugung Bossingers nicht nur in der ständig zunehmenden Technisierung unseres Alltags. „Viele Menschen scheuen sich zu singen. Sie haben in ihrer Kindheit beschämende Erfahrungen gemacht oder man hat ihnen eingeredet, sie könnten gar nicht singen“, erklärt er. Bossinger arbeitet deshalb in seinen Kursen mit einfachen Melodien und Liedern. Schon nach kurzer Zeit seien die Teilnehmer dann in der Lage, stressfrei in die Musik einzutauchen und ihre befreiende Wirkung zu erfahren, sagt Bossinger.

Solche Gesangsgruppen seien für Menschen, die seit ihrer Kindheit nicht mehr gesungen haben, besser geeigneter als Chöre, die oft mehr Wert auf Leistung legen würden. Auch Carien Wijnen bevorzugt genau aus diesem Grund einfache Lieder und Mantren aus aller Welt. Möglichst viele Menschen sollen angesprochen werden. Denn Wijnen ist überzeugt: „Wer sprechen kann, kann auch singen“.

Literatur zum Thema:

Wolfram Seidner. „ABC des Singens“. Henschel Verlag,Berlin. 151 Seiten, 16.90 Euro

Wolfgang Bossinger. „Die heilende Kraft des Singens“. Traumzeit Verlag, Battweiler, 333 Seiten, 26.90 Euro


Mythos: Orpheus mit seiner Lyra. Foto: pixabay

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